Urbanes Graveln und Haldenhopping – Bikepacking zwischen Stahl und Natur
Zugegeben, es war nicht das erste Ziel, das uns in den Sinn kam. Statt Alpenpanorama oder Küstenstraßen: Fördertürme, urbanes Graveln an renaturierten Abwasserkanälen und Haldenhopping? Klingt erstmal ungewöhnlich. Aber genau das hat unsere Neugier geweckt. Drei Tage und 330 Kilometer später ist klar: Das Ruhrgebiet überrascht – mit einer Infrastruktur, die wie gemacht ist fürs Gravelbiken, und einer Vielfalt, die man so hier nicht erwartet.
Das „In Hostel Veritas“ in Oberhausen, Foto: Dennis Stratmann
Ankommen im „Ruhrlaub“
Unsere Tour startete in Oberhausen. Jonas und ich sind am Abend mit der Bahn angereist – direkt und unkompliziert im Nahverkehr, die Bikes im Radabteil, Vorfreude im Bauch. Das Hostel Veritas ist eine kleine Oase im Stadtdschungel von Oberhausen, unweit vom Emscher-Weg und dem Rhein-Herne-Kanal und mitten im Radrevier.ruhr – mit grünem Garten, entspannter Stimmung und einem Buffet mit überraschend vielen veganen Optionen fiel das Ankommen leicht.
Zum Sonnenuntergang spazierten wir auf die Knappenhalde. Es ist die erste richtige Aussicht unserer Tour – und sie hat direkt was Magisches. Der Blick schweift weit übers Revier, am Horizont leuchten Industrie-Silhouetten im Abendlicht – inszeniert wie ein Disney-Schloss aus Stahl. Ein erster kleiner Magic Moment im Ruhrlaub.
Tag 1: Revier-Safari – roh, laut, direkt
Der erste volle Tag im Ruhrlaub – und direkt eine Gravel-Safari vom Feinsten: Wir rollen los, 100m Asphalt, dann ein schmaler Weg vorbei an Schrebergärten und Industrieanlagen. Nach nur ein paar Augenblicken sind wir auf dem Radweg am Rhein-Herne-Kanal. Premium-Schotter! Wir haken schon auf den ersten Kilometern ein Highlight – wie den Zauberlehrling, den Gasometer oder die Slinky Springs to Fame-Brücke – nach dem nächsten ab und staunen nicht schlecht, wie viel Abenteuer in diesen Tag passt.
Von Hafengebieten geht’s auf schnurgeraden Kanalradwegen weiter, vorbei an rostenden Relikten der Industriegeschichte, durch urbane Zwischenräume und verwachsene Randzonen. Graveln mitten im Revier – hier ist es roh, laut, direkt.
Unser erster großer Stopp ist der Landschaftspark Duisburg Nord. Ein stillgelegtes Hüttenwerk, das aussieht wie die Kulisse eines postindustriellen Abenteuerfilms und übrigens immer wieder Kulisse für Filmdrehs wie zuletzt die Tribute von Panem. Die Natur holt sich diesen unwirklichen und von Menschenhand geschaffenen, riesigen Komplex Meter für Meter zurück. Die Pflanzen ranken sich hoch an den Stahlträgern der ehemaligen Förderbänder. Durch die rostigen Stahlgiganten zu fahren, fühlt sich an wie eine Fahrt durch eine vergessene Welt.
Dann erreichen wir den Rhein – für mich mehr als nur ein Fluss. 300 Kilometer weiter südlich bin ich an seinen Ufern groß geworden. Und jetzt, mitten im Revier, begegnet er mir wieder. Wir rollen entspannt über den Deich, genießen die Weite der Auen. Noch weht uns der Wind entgegen, doch bald soll er drehen. Zwei Mal queren wir den Fluss – einmal sogar über eine Autobahnbrücke. Ungewöhnlich, aber typisch fürs Ruhrgebiet.
Danach weiter zur Halde Rheinpreußen, wo das „Geleucht“ – eine überdimensionale rote Grubenlampe – über dem Horizont wacht wie ein Wächter vergangener Zeiten. Oben auf der Halde genießen wir den Weitblick, Wind, ein Moment zum Durchatmen.
Halde Rheinpreußen mit „Geleucht“, Foto: Jonas Leefmann
Doch das Ruhrgebiet kann auch anders: Zwischen all der Industrieästhetik zeigt es uns seine sanfte Seite. Wir rauschen durch kleine Wälder, entlang weiter Felder, folgen Flüssen oder alten Bahntrassen, die sich wie grüne Bänder durch das Revier ziehen. Die Wege sind top gepflegt, abwechslungsreich, nie monoton. Nur selten queren wir Straßen oder werden durch Ampeln gestoppt.
Am späten Nachmittag erreichen wir unser Tagesziel: den BernePark in Bottrop. Ein stillgelegtes Klärwerk der Berne, ein Abwasserzufluss zur Emscher, umgebaut in einen grünen Kulturort – samt Übernachtungsmöglichkeit in umgebauten Kanalröhren. Eine runde Sache, im wahrsten Sinne. Die Röhren sind minimalistisch, funktional, überraschend gemütlich – und für uns eines der Highlights des Tages und eine echte Empfehlung für alle, die über den Emscher-Weg hier entlangkommen. Die grüne Oase ist ein echter Ruhepol – unmittelbar unterhalb der viel befahrenen A42 gelegen und doch zum auftanken leise genug.
Tag 2: Haldenhopping & Streetfood-Surprise
Am nächsten Morgen starten wir frisch und nach Abenteuer hungrig in den zweiten Tag unseres Ruhrlaubs. Heute steht Haldenhopping auf dem Programm – über 1000 Höhenmeter warten auf uns, was erst mal irre klingt, weil das Ruhrgebiet ja eigentlich flach ist.
Eines der Highlights war der Tetraeder auf der Halde Beckstraße: Ein markantes Stahlbauwerk, das einer durchsichtigen Pyramide ähnelt – nur mit drei, anstatt vier Kanten. Der Tetraeder ragt wie ein moderner Aussichtsturm schwindelerregend (!) in den Himmel. Von hier aus öffnet sich ein weiter Blick über das Revier – eine faszinierende Mischung aus Industrie, Grünflächen und urbaner Weite. Jonas Beine waren schon etwas wackelig auf dem Weg runter. Nur dünne Stahlseile und -träger halten die Treppen und Plattformen des Tetraeder an Ort und Stelle. Und man spürt jede Bewegung von anderen Menschen unter seinen eigenen Füßen.
Schurenbachhalde in Essen, Foto: Jonas Leefmann
Rund um die Halde Eickwinkel und die Schurenbachhalde wurde es plötzlich technischer: schmale Pfade, wurzelige Abschnitte, steile Rampen. Erst zögerten wir – kann man das wirklich mit dem Gravelbike fahren? Doch dann rauschte ein Local an uns vorbei, locker, mit breitem Grinsen im Gesicht. Challenge accepted! Wir stiegen wieder aufs Rad, schnappten uns die Line – und hatten einen Riesenspaß. Zwischen Trailspaß und Haldenpanorama fühlte sich das Ruhrgebiet plötzlich wie ein wilder Spielplatz an.
Unzählige Halden später – wir haben längst aufgehört zu zählen – erreichen wir die Halde Hoheward. Wer auf’s Haldendach will, um zwischen Sonnenuhr und Horizontobservatorium die Aussicht zu genießen, muss radeln oder laufen – kein Bus, keine Bahn fährt hier hoch.
Nach den Halden wechseln sich urbane Radwege mit ruhigen Passagen entlang des Emscher- und Ruhrtal-Radwegs ab. Von jetzt auf gleich wird es leise im Revier, fast schon meditativ. Sanfte Natur, plätschernde Flüsse, Vogelgesang – hier zeigt das Ruhrgebiet seine ruhige Seite.
Es geht vorbei an Dortmund – ohne dass wir von der Großstadt groß Kenntnis nehmen. Die Emscher und ihre Wiederbelebung durch die Emschergenossenschaft haben es uns angetan. Aus einem der früher schmutzigsten Abwasserflüsse Deutschlands wird heute eine vielfältige Tier- und Pflanzenwelt durch Renaturierung geschaffen – mitten im Ruhrgebiet.
Wir folgen dem Radweg entlang der Emscher und schlängeln uns unter Brücken oder über Brücken immer weiter gen Osten, bis wir den Phoenix See passieren. Hier ist eine interessante Mischung aus Luxus-Architektur, Kunst und maritimem Flair entstanden. Unsere Route führt uns ab hier Richtung Süden. Die Wälder werden dichter. Die bereits flach stehende Sonne verstärkt unseren Eindruck, dass die Wälder um uns herum dunkler werden. Auch merken wir, dass wir am Rand des flachen Ruhrgebiets angekommen sind. Aus Hügeln werden Anstiege und die weite Ebene hat sich abgewechselt mit steilen Tälern und Bergen. Wir überqueren den Hengsteysee über eine alte Brücke und sind angekommen an unserem zweiten Tagesziel – dem Strandhaus in Hagen. Hier gibt es eine echte „Freibad“-Pommes am Strand und eine ganz andere Stimmung – Urlaubsfeeling pur, ein kleiner Kontrast zum rauen Revier.
Tag 3: Alte Bahntrassen & Industriekultur
Der letzte Tag beginnt früh. Wir drücken auf die Tube, denn für den Nachmittag ist Regen angesagt. Der Himmel bleibt grau, immer wieder nieselt es leicht, doch der Untergrund ist überraschend gut fahrbar und oft geschützt unter Baumkronen.
Wir radeln entlang der Ruhr zurück nach Westen – dem Wind und dem drohenden Regen entgegen. Mehrmals queren wir den Fluss, über alte Bahnbrücken und schließlich mit der Ruhrtalfähre Hardenstein. Die kleine Seilfähre, nur für Fußgänger und Radfahrende, schaukelt uns über das Wasser. Die Gischt spritzt leicht über die Bordwand, erfrischt die Haut und macht den Kopf frei. Danach geht’s weiter auf alten Bahntrassen, die sich wie ein grünes Band durch Bochum und Essen ziehen – urban, verwinkelt und verwunschen. Ein vorletzter Abstecher führt uns zur Jahrhunderthalle in Bochum – ein weiteres architektonisches Denkmal der Industriekultur, riesig, imposant und still zugleich.
Kurze Zeit später stehen wir vor der Zeche Zollverein – UNESCO-Weltkulturerbe und Herzstück der Industriekultur. Zwischen rostigen Anlagen, modernen Museumsbauten und Kopfsteinpflaster spürt man förmlich die Seele des Ruhrgebiets. Der graue Himmel passt perfekt zu den apokalyptischen wirkenden Überbleibseln der Hochzeit der Kohle- und Stahlindustrie. Wir radeln entlang nie enden wollenden monströsen Fabrikhallen und -anlagen. Ihre rotbraune, rote backsteinfarbige Anmutung mit dem grauen Himmel – Gänsehaut pur.
Zurück in Oberhausen endet unser Trip – mit dem Gefühl, eine Region entdeckt zu haben, die viel mehr ist als Stahl und Kohle.
Fazit Rad.Ruhrgebiet
Das Ruhrgebiet ist kein „easy escape“. Es fordert einen heraus – mit seinen Brüchen, seinem urbanen Gewusel, seiner Direktheit. Aber es schenkt auch viel: Geschichte, Aussicht, Kontraste, ehrliche Begegnungen. Für uns war es eine überraschend vielfältige Gravel-Safari am Emscher-Weg und im Radrevier.ruhr mit perfekter Infrastruktur und vielen Highlights, die Lust auf mehr machen.
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